Aus dem Nähkästchen geplaudert (Teil 3)

Hallo ihr Lieben,

Ein Dreivierteljahr meines Freiwilligen Friedensdienstes und somit auch meiner Arbeit auf der russischen Intensivstation ist vorbei und es wird mal Zeit, Bilanz zu ziehen. Was hat sich in meinem Krankenhausleben und insgesamt während der letzten Monate so getan?

Ich fühle mich angekommen. Auch wenn ich diesen Satz bestimmt schon des Öfteren habe verlauten lassen, so ist es nach über einem halben Jahr tatsächlich der Fall. Zu Anfang des Jahres war ich „angekommen“ in dem Sinne, dass ich innerlich wusste, dass ich die nächsten 12 Monate in einem anderen Land mit einer anderen Kultur verbringen werde. Jetzt bin ich „angekommen“ in dem Sinne, dass ich hier wirklich lebe. Es gibt so gut wie keine Situationen, die mich übermäßig stressen könnten (nur die gleichen wie in Deutschland), ich habe mich mit den Strukturen in Russland angefreundet und weiß, dass ich mit meinen Sprachkenntnissen zur Not überall durchkommen würde. Ich habe zum Beispiel keine Panik mehr davor, im Krankenhaus aus Versehen jemanden umzubringen, mich auf der Straße mit Rüpeln anzulegen oder auf Reisen verloren zu gehen. Aber ich glaube, das macht auch die Übung; in Russland geht irgendwie ständig irgendetwas schief. In Deutschland ist es mir noch nie passiert, dass ich zu spät zum Zug gekommen bin oder meinen Flug verpasst habe. In Russland – bisher in 70% der Fälle. Entweder bin ich zu spät zum Bahnhof gekommen, weil der Verkehr in russischen Städten einfach fürchterlich ist und ich naiv geglaubt habe, dass die Zeit, die mir die Navigations-App anzeigt, schon passen wird. Oder ich habe 30 Minuten vor dem Boarden gemerkt, dass ich den Flug auf ein falsches Datum gebucht hatte (okay, das hatte mehr was mit meiner eigenen Schusseligkeit zu tun, als mit was anderem, da bin ich manchmal ein richtiger Horst :D). Was ich sagen will: Je mehr Sachen schief laufen, desto entspannter werde ich.

Anfang März bin ich übrigens zu meiner Freundin/ Arbeitskollegin gezogen und lebe nun in einem waschechten russischen Haushalt und natürlich ist auch da ständig was los. Irgendetwas geht immer kaputt, aber so bleibt man beschäftigt. Als bei uns also letztens die Toilettenspülung versagt hat und wir – zwei kompetente Intensivkrankenschwestern, aber keinen blassen Schimmer von Sanitärtechnik – nachts vor der Toilette hockten und versuchten mit Youtube-Anleitung da irgendwas zu reparieren, muss das von außen schon ziemlich witzig ausgesehen haben. Meine Freundin und ich in Badeschlappen mit hochgekrempelten Jogginghosen und Werkzeug bewaffnet, ich zusätzlich mit Kochlöffel und Schürze ausgestattet, weil mein Bortsch (Rote-Beete-Suppe) noch auf dem Herd köchelte, standen da also nach vorne gebeugt über der Toilettenschüssel und diskutierten hitzig, wohin welche Dichtung anzubringen sei. Andererseits war das Ganze aber auch nicht witzig, weil ich mich am darauffolgenden Tag die schlimmste Magen-Darm-Geschichte meines Lebens ereilt hatte und wir die Toilette bis dahin natürlich nicht wieder hingekriegt, sondern nur geschafft hatten, das Bad zu fluten. Wie haben wir das Problem im Endeffekt gelöst? Wie richtige russische Frauen: Wir haben einen Mann angerufen und ihn die Handwerksarbeit machen lassen. Als Aufwandsentschädigung gab es selbst gemachte Piroggen und heißen Tee.

Okay, aber zurück zum Krankenhaus: Ich bin erstaunt, wie gut ich nach über einem halben Jahr im Krankenhaus zurechtkomme, obwohl mein Russisch nicht perfekt ist und sich die Strukturen in manchen Sachen schon ganz schön unterscheiden. In Deutschland habe ich es sehr genossen, mich gewählt in medizinischer Fachsprache ausdrücken und genau das sagen zu können, was ich auch meine. Und irgendwie hat es mir auch viel Sicherheit gegeben, in dem ganzen Latein-Kauderwelsch der Medizin durchzublicken und dadurch mit den Ärzten kompetent diskutieren zu können. Das hat mir in Russland am Anfang Sorgen bereitet – ich wusste nicht, ob ich alles verstehen würde und, ob mich die anderen verstehen würden. Aber letztendlich habe ich für mich festgestellt, dass Menschen, egal welche Nationalität sie besitzen, sich von ihrer Anatomie und Physiologie nicht unterscheiden, und Patienten in Russland genauso atmen, genauso bluten und genau die gleichen Ängste und Sorgen haben wie Patienten in Deutschland. Während ich das so aufschreibe, hört sich das total banal und auch ziemlich einleuchtend an. Aber diese Erkenntnis ist mir tatsächlich erst während der letzten Monate gekommen und hat mich auch ein bisschen ruhiger gemacht. Außerdem habe ich festgestellt, dass, wenn ich mich mitteilen möchte und etwas Wichtiges zu sagen habe, dass das auch ohne fachlich eloquentes Rumgelaber klappt. Fernerhin hat mir die Tatsache, dass es auch mal okay ist, wie ein richtiger Volldepp rüber zu kommen und einfach drüber zu stehen, mir mein Leben hier um einiges erleichtert. Was habe ich noch für Erkenntnisse gewonnen?

Meine Meinung zum Thema „Apparate- oder Gerätemedizin“ musste ich in den letzten Monaten ein wenig überdenken. In Deutschland gibt es schon länger die Diskussion oder die allgemeine Kritik an technikbestimmter Medizin, die Hightech-Geräte über den persönlichen Kontakt mit dem Patienten stellt. Vor allem auf Intensivstationen ist man umgeben von allen möglichen medizinischen Gerätschaften – seien es Systeme, die Organe ersetzen wie Lungen- oder Nierenersatzverfahren, Beatmungsgeräte; Monitore, die die Vitalfunktionen überwachen oder „einfache“ Geräte wie Infusomaten/ Perfusoren, die Medikamentengaben steuern. Diese nehmen häufig mehr Zeit und Raum in Anspruch als der eigentliche Patient selbst. Deswegen ist die Kritik, dass der persönliche Patientenkontakt abnimmt, nicht unberechtigt; ich habe selber bei meinen Diensten in Deutschland häufig mehr an Geräten meines Patienten rumgedoktert, als an meinem Patienten selbst und war mehr damit beschäftigt, auf das Piepen und Alarmieren jener zu reagieren, als auf die Fragen meines Patienten. So war es, als ich auf der russischen Intensivstation angefangen habe, ein ungewohntes Bild für mich, dass alles wesentlich übersichtlicher war. Auch die „Stille“ war und ist noch immer ein Segen, und es ist spürbar angenehmer in einer Umgebung zu arbeiten, wo nicht ständig irgendwelche Alarme losgehen und man wegen medizinischer Apparaturen so viel Arbeitsaufwand betreiben muss. Allerdings habe ich festgestellt, dass doch so einiges durch die Lappen geht, wenn Apparaturen fehlen und einen auf bestimmte Sachen nicht aufmerksam machen. Ich habe zwei Patientengeschichten im Kopf, die mir hängen geblieben sind und, über die ich viel nachdenken musste; und zwar nicht, weil es besonders tragische Ereignisse waren – tragisch waren sie in gewisser Weise schon, aber das ist nicht der Grund, warum sie mir in Erinnerung geblieben sind; sie sind mir hängen geblieben, weil ich mir nicht sicher bin, ob diese beiden Geschichten unter anderen Bedingungen nicht vielleicht einen anderen Verlauf genommen hätten.

Der erste Fall, eine Frau, sie war zwar schon etwas älter, aber noch ganz rüstig für ihr Alter, hatte wegen falscher Medikamentenverabreichung ein Kammerflimmern entwickelt, welches leider nicht direkt bemerkt worden ist (sie wies bei Aufnahme keine Herzrhythmusstörungen auf, sodass keine Indikation für eine kontinuierliche EKG-Überwachung bestand); das Flimmern wurde zwar „relativ“ schnell bemerkt, aber „relativ schnell“ ist in so einem Fall nun einmal nicht schnell genug. Sie wurde noch reanimiert und defibrilliert und lag noch einige Tage bei uns – an allen möglichen Apparaten angeschlossen, die ihrem Körper ein Weiterleben ermöglichten – aber letztendlich verstarb sie an Multiorganversagen. Der zweite Fall, ein Junge, ca. 18 Jahre alt, nach einem Verkehrsunfall, war tagsüber zu uns gekommen und war so erst einmal nicht weiter auffällig. Nachts hatte er einen Hirndruckanstieg, der nicht schnell genug bemerkt wurde. Als ich am nächsten Morgen zum Dienst erschien, war er bereits hirntot. Das sind natürlich worst-case-Szenarien, die ich hier beschreibe, die passieren nicht jeden Tag und auch die Hintergründe sind um einiges komplexer, als dass man den voreiligen Rückschluss ziehen könnte, dass die beiden Patienten überlebt hätten, wenn es bessere Überwachungsmöglichkeiten gegeben hätte. Das ist auch nicht das, was ich anzudeuten beabsichtige. Allerdings laufen mir solche Vorfälle im kleineren Rahmen schon mal des Öfteren über den Weg, und sei es, dass ich durch einen Patientensaal gehe, zufällig auf den Monitor blicke und eine Sättigung von 70% (Normwert ist über 93%) oder einen Puls von 29 (Normwert ist über 60, über 50 wäre aber auch okay) erblicke und mich frage, wie lange diese „Zahl“ dort schon steht und wie lange es dem Patienten, dem diese „Zahl“ angehört, schon so schlecht geht. Was bei mir von solchen Erlebnissen hängen bleibt, ist, dass in Russland im Allgemeinen mehr solcher Sicherheitslücken herrschen und auch toleriert werden, vor allem, weil es sich wirtschaftlich für ein Krankenhaus nicht rentiert/ nicht möglich ist, mehr Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Fortschritte in der Medizin, Nutzen von mehr Überwachungsmöglichkeiten und Sich-Auskennen mit medizinischen Geräten erfordern zeitgleich ein geschultes Personal, dass sich mit der Bedeutung der Werte, die angezeigt werden, deren Referenzbereichen, deren Interpretation im klinischen Kontext und den Maßnahmen zur Regulierung auskennen muss. Geräte und Personal, die wiederum erst einmal vorhanden sein müssen und, die Kosten für ein Krankenhaus verursachen. Diese „Anschaffungen“ sind jedoch notwendig, um menschliches Versagen aufzufangen. Denn Menschen machen Fehler, das ist normal, vor allem, wenn sie gestresst, übermüdet, überarbeitet oder private Probleme im Hinterkopf haben. Und vor allem in sensiblen Bereichen wie Krankenhäusern und im Besonderen Intensivstationen haben menschliche Fehler verheerende Folgen. Mir selber ist vor einigen Monaten ein Fehler unterlaufen, der damals weitreichende Konsequenzen für meinen Patienten hatte, der einen Schaden angerichtet hatte, den ich nicht wieder gut machen kann. Und damals hat mich das Ganze unglaublich traurig, aber auch unglaublich wütend gemacht, weil ich weiß, dass mir das in Deutschland nur aufgrund der anderen strukturellen Gegebenheiten sehr sehr wahrscheinlich nicht passiert wäre. Es braucht also Gerätschaften, die nicht nur die Patienten schützen, sondern auch mich als medizinisches Personal vor meinen eigenen menschlichen Fehltritten. Wenn die Ausstattung jedoch fehlt, passieren genauso solche Fehler und zwar immer wieder und diese Erkenntnis macht mich traurig.

Bleiben wir mal beim Thema Fehler: Ich habe festgestellt, dass die Fehlerkultur in Deutschland ein wenig anders aussieht als in Russland: In Deutschland ist es beispielsweise nicht weiter schlimm, wenn Ampullen zerbrechen oder zu injizierende Medikamente falsch aufgelöst werden; dann kann man sich aus dem Apothekenschrank einfach ein neues nehmen und es neu auflösen. Nicht, dass man nicht aufpassen müsste – auch in Deutschland sollte man nicht gedankenlos teure Medikamente oder insgesamt Materialien gegen die Wand schmeißen, aber es dreht einem halt keiner den Kopf ab, wenn das mal passiert. Die Fehlerkultur ist eher konstruktiv und offen. Das Verständnis, dass Fehler normal sind und auch zugegeben werden dürfen (und sollen!) bietet Raum dafür, aus den Fehlern zu lernen und Veränderungen zu schaffen. In Deutschland gibt es in Einrichtungen des Gesundheitswesens zum Beispiel ein Berichtssystem für kritische Ereignisse (CIRS = Critical Incident Reporting System), wo kritische Vorkommnisse oder Beinahe-Schäden anonym gemeldet werden können. Das heißt, jeder Mitarbeiter im Krankenhaus kann so eine Meldung verfassen, wenn sich ein Zwischenfall ereignet hat, der die Patientensicherheit betrifft. Die Meldung landet dann auf dem CIRS-Portal, es gibt eine offizielle Stellungnahme (mit Lösungsvorschlag) von Experten und je nachdem, wie schwerwiegend der Zwischenfall war bzw. wie hoch die Wahrscheinlichkeit für ein erneutes Auftreten dessen ist, handelt das Krankenhaus auch. Ein Beispiel, damit mir auch jeder folgen kann: Bis vor einigen Jahren noch gab es nur grüne Spritzen im Krankenhaus, sodass Medikamente zur intravenösen (in die Vene), aber auch zur oralen Verabreichung (mit Wasser aufgelöste Tabletten über die Magensonde) jeweils in grünen Spritzen aufgelöst wurden. Auch wenn die Spritzen immer beschriftet sind, ist das ´ne ziemlich grenzwertige Angelegenheit, weil so eine aufgelöste Tablette in Stresssituationen oder einfach durch Nachsicht durchaus in der Vene und nicht im Magen des Patienten landen kann. Auf jeden Fall gab es auch eine solche CIRS-Meldung und seitdem gibt es auch lila Spritzen (die nur für die orale Gabe von Medikamenten bestimmt sind), sodass die farbliche Unterscheidung der Spritzen schon zur Fehlerminimierung führen soll. Grün für die Vene, Lila für den Magen. An sich ein ziemlich schlaues System, weil Fehler offen angesprochen und Prozesse somit optimiert werden können. In Russland sieht der Umgang mit Fehlern eher anders aus, da sollte man sich diese besser nicht erlauben. Es gibt sogar richtig Gewitter, wenn man zu viele Laborproben bei einem Patienten abnimmt, als Assistenzarzt zu viele Blutkonserven bestellt oder insgesamt teure Ampullen versehentlich zerbricht oder falsch auflöst (denn teure Medikamente müssen die Angehörigen meist selbst für ihre Patienten bezahlen, weshalb die Ampullen für die Behandlung genau abgezählt sind). Fehler zugeben ist hier also wesentlich heikler, sodass Vorkommnisse, die nicht ganz so sauber laufen, eher vertuscht als offen angesprochen werden – auf dem Papier natürlich nicht. In der offiziellen Dokumentation steht etwas anderes. Dies ist auf lange Sicht gesehen aber problematisch, denn wenn angeblich alles super läuft, muss auch nichts geändert werden.

Eine witzige Anekdote, die uns letztens passiert ist, möchte ich noch mit euch teilen: Ein Patient bei uns hatte sich von der Atemsituation rasch verschlechtert und musste deshalb zügig intubiert werden (benötigte also einen Beatmungsschlauch für die künstliche Beatmung). Wir hatten alles vorbereitet, auch einen Ersatz-Tubus bereit gelegt (aber auch wirklich nur den einen in der Größe, den der Patient brauchte – denn: Materialmangel lässt grüßen) und konnten loslegen. In der Regel wird der Tubus in Russland mit steriler Vaseline eingeschmiert und ich kann euch verraten, das Zeug ist super glitschig (in Deutschland nimmt man dafür ein steriles Gleitgel mit Lokalanästhetikum, das saut nicht so rum). Es kam, wie es kommen musste: Den ersten Tubus haben wir verbraten – er ist in der falschen Röhre gelandet – und der zweite Tubus ist wie ein glitschiger Fisch, der um seine Freiheit kämpft aus den Händen der anreichenden Krankenschwester direkt auf den Fußboden weg geflutscht. Was also tun, wenn es keine Tuben mehr gibt, der Patient aber zügig einen braucht? Richtig. Glitschigen Tubus vom Boden aufheben, einmal drüber pusten, so tun, als hätte das keiner gesehen und rein in den Patienten. Ich war bei dieser Aktion zum Glück nur für die Sedierung verantwortlich (also fürs Schlafenlegen des Patienten) und den Lack für den nicht ganz steril angereichten Tubus durfte sich jemand anderes abholen. Aber auch ich musste schon häufiger auf der russischen Intensivstation stramm stehen und mir eine Strafrede anhören, was manchmal einer disziplinarischen Anhörung gleichkommt.

Apropos Disziplin: In Russland herrschen doch eher strengere Regeln im Krankenhaus, unter anderem auch in Bezug auf die Besuchszeiten: Auf Normalstationen dürfen Angehörige ihre Verwandten in der Zeit von 10 bis 12 Uhr und von 16 bis 18 Uhr besuchen. Von 14 bis 16 Uhr gilt die „stille Stunde“: Während dieser Zeit darf sich keiner im Flur aufhalten, die Patienten müssen in ihren Zimmern bleiben und sollen sich (quasi nach dem Mittagessen und bis zum Abendessen) ausruhen. Wer doch auf dem Flur rumtobt und die Ordnung stört, kriegt es mit der zuständigen Krankenschwester zu tun. Theoretisch darf sich auch medizinisches Personal aus anderen Abteilungen nicht auf fremden Stationen aufhalten, sodass unterdessen im ganzen Krankenhaus Ruhe herrschen soll. Auf der Intensivstation sieht das Ganze etwas anders aus: Erst Januar letzten Jahres ist ein Gesetz verabschiedet worden, dass Angehörigen Zutritt zu Intensivstationen gewährt. Davor durften Angehörige den Patienten nur sehen, wenn er schon auf eine Normalstation verlegt wurde (da konnten durchaus einige Wochen vergehen) oder wirklich nur Ausnahmefälle. Wie lange sich der Besuch auf der Intensivstation nun aufhalten darf, ist nicht einheitlich geregelt, sondern abhängig vom Oberarzt, der die Intensiv leitet. Bei uns auf der Intensivstation sind die Besuchszeiten von 14 bis 18 Uhr und auch da erhält nicht unbedingt jeder Einlass. Die Ärzte schauen sich die Angehörigen im Vorfeld an und begleiten sie zum Patienten; wenn sich die Angehörigen zu „hysterisch“ verhalten oder zu sehr auf die Nerven fallen, können diese kurzerhand auch wieder von der Station verwiesen werden. Aber Angehörige sind ziemlich wichtig in dem ganzen Genesungsprozess des Patienten. Auf Normalstationen helfen sie beim Frischmachen und Anziehen, beim Essen anreichen, kaufen Hygieneartikel (Seife, Feuchttücher, Einmalunterlagen plus Wasser, denn das ist im Krankenhaus nicht vorrätig vorhanden) stehen mit den Patienten nach der OP auf und laufen mit ihnen über den Flur – sind also quasi für die ganze Grundpflege verantwortlich. Die Krankenschwestern übernehmen nur Aufgaben wie Medikamente (Infusionen/ Spritzen) verabreichen, Verbände wechseln, mal den einen oder den anderen Blutdruck messen und Essen austeilen. Wer in Russland also in ein Krankenhaus eingewiesen wird und keine Angehörigen hat, der sich um einen kümmert, hat leider verloren.

Ich habe während meiner Zeit auf der russischen Intensivstation aber auch feststellen müssen, dass hier insgesamt ein anderes Verständnis vom Genesungsprozess herrscht. In Deutschland wird die Selbstständigkeit des Patienten mehr gefördert – das heißt, dass vor allem Maßnahmen im Vordergrund stehen, die darauf abzielen, dass der Patient möglichst vieles alleine und selbstständig bewältigt und am Ende seines Krankenhaus-Aufenthaltes auf so wenig Hilfe wie möglich angewiesen ist. In Russland hingegen ist  noch das Denken verankert, dass Patienten viel liegen bleiben und sich ausruhen sollen. Deshalb sieht es mit Rehabilitationsmaßnahmen auch eher so dürftig aus. Es wird nicht allzu viel rausmobilisiert oder Patienten, die sich nicht selber auf eine andere Seite drehen können, bewegt. Und wenn der Patient nicht eigenständig die Initiative ergreift, sich hinsetzen oder aufstehen zu wollen, wird von Seiten des medizinischen Personals häufig nicht viel getan. Bei uns auf Station kriege ich aber gerade einen Wandel mit. Als ich vor fast einen Jahr auf unserer Intensivstation angefangen habe, lagen alle Patienten  grundsätzlich auf dem Rücken und ich habe mehr Dekubitus (Druckgeschwüre, die u.a. vom langen Liegen auf einer Stelle verursacht werden) gesehen, als mir lieb waren – und wenn Patienten nicht gerade extrem knochig sind (also wenig Fett zum polstern haben), Wundheilungsstörungen oder hohe Dosierungen von Katecholaminen (blutdrucksteigernde, gefäßverengende Mittel) laufen haben, dann sind Dekubitus echt nicht notwendig und schlicht und einfach nur Kunst-/ Behandlungsfehler. Auf jeden Fall hat mich das Ganze damals ganz schön geschockt und ich war gewillt, etwas an der Situation zu ändern. Also stand ich regelmäßig im Arztzimmer auf der Matte und habe mir bei jedem Patienten die Erlaubnis abgeholt, ihn lagern zu dürfen. Dennoch war das ganze Unterfangen schwieriger als gedacht, denn es gab einige Hürden zu bewältigen, auf die ich nicht vorbereitet war:

  1. Lagern/ Umpositionieren/ Durchbewegen von Patienten ist ein Aufgabenbereich, der in Russland nicht klar einer Berufsgruppe zugeordnet ist. In Deutschland weiß ich, dass es meine Aufgabe als Gesundheits- und Krankenpflegerin ist, einen Patienten auf eine andere Seite zu drehen, mit ihm aufzustehen und dafür zu sorgen, dass seine Gelenke fluffig bleiben. In Russland ist das nicht so. Auf Normalstationen ist es nicht (!) Aufgabe der Krankenschwestern – darum müssen sich schon die Angehörigen kümmern. Da Angehörige auf Intensivstationen aber kaum zu sichten sind bzw. sich dort gar nicht so lange aufhalten dürfen, bleibt die Frage im Raum, wer denn nun dafür zuständig ist. Die Ärzte? Die Krankenschwestern? Oder doch die Pflegehelfer? Und da sich keiner so wirklich für das Umpositionieren von Patienten verantwortlich fühlt, bleibt dieses Thema häufig liegen – genauso wie der Patient.
  2. Der Arbeitsaufwand. Es ist kein Geheimnis, dass die Arbeitsbedingungen von Krankenschwestern oder allgemein von medizinischem Personal einfach nur bescheiden sind. Wenn ich in Deutschland nicht allzu zufrieden war, dann könnte ich hier nur weinen – also nicht wirklich, weil ich als offizieller „Freiwilliger“ die absoluten Luxus-Arbeitszeiten habe und nichts zu murren habe, aber meine Arbeitskollegen schon. Denn diese müssen in der Woche im Schnitt drei 24-Stunden Dienste schieben, bei einer Bezahlung, die eher mau ist. 24 Stunden! Plus An- und Abfahrt. Wo bleibt da noch ein Privatleben? Als ich einmal einen Nachtdienst (von 16 Uhr bis 8 Uhr morgens) mitgemacht habe, weil wir Personalmangel hatten, konnte ich am Ende oben von unten nicht mehr unterscheiden, und dabei hatten wir noch ´ne echt humane Schicht. Versuch da mal, um 5 Uhr morgens noch die richtige Vene zu treffen, wenn du eh schon alles doppelt siehst. Und an meinem „freien Tag“, an dem ich ausgeschlafen habe und in einer Verfassung verbracht habe, die eher einem alkoholisierten Zustand glich, war auch nicht sonderlich produktiv. Lange Rede, kurzer Sinn: Die hiesigen Arbeitsbedingungen schreien nicht gerade danach, sich für seinen Beruf aufzuopfern und zusätzliche Arbeit leisten zu wollen.
  3. Als Frau darf man keine schwere körperliche Arbeit verrichten. In Russland herrscht noch ein ziemlich altmodisches Rollenverständnis und irgendwie scheint noch die allgemeine Meinung verbreitet zu sein, dass Frauen klein und zierlich sind, in Watte gepackt und sich der starke Mann um sie kümmern muss. Das hat sicherlich viel mit der Erziehung und den Wertevorstellungen in Russland zu tun. Ich hab mir berichten lassen, dass Jungen bereits in der Grundschule beigebracht bekommen, wie man sich Mädchen/ Frauen gegenüber verhält: Im Bus für sie aufstehen, die Türen aufhalten, ihre Taschen tragen etc. und dieses Verhalten ist inzwischen so eingedrillt, dass ich es manchmal belächeln muss. Es ist vor allem dann witzig, wenn ich mit meiner männlichen Begleitung das Fitnessstudio verlasse und dann jedes Mal eine reflexartige Handbewegung zu meiner Tasche von der Seite bemerke. Dann muss ich immer erklären, dass ich gerade so noch in der Lage bin, mein Täschchen die paar Meter zur Marschrutka selbst zu tragen. Schließlich habe ich die Stange mit den Gewichten im Fitnessstudio auch selbstständig hochheben können, ohne, dass mir ein Mann dabei helfen musste.

Naja, auf jeden Fall kam dieses Mann-Frau-Gefälle anfangs auf der Arbeit so richtig zum Vorschein, sodass bei uns nur die männlichen Ärzte und Pfleger gelagert haben. Und wenn ich dann mit am Bett stand und mit anpacken wollte, wurde ich jedes Mal sanft an der Hüfte gepackt und zur Seite geschoben. Wenn ich Glück hatte, durfte ich den dicken Zeh des Patienten halten – das war meine Beteiligung an der ganzen Aktion.

Wie hat sich das Ganze bis heute entwickelt? Da ich schon als Kind immer stur war und sich das im Erwachsenenalter nicht gebessert hat, habe ich meistens das gemacht, was mir verboten wurde. So auch hier. Ich hab im Arztzimmer immer brav angefragt, ob Patient XY denn bewegt/ zur Seite gedreht werden darf, hab dann gewartet, bis sich keiner meiner Arbeitskollegen im Patientensaal aufgehalten hat, mir den besagten Patienten gekrallt und ihn dann schnell gelagert. Oftmals blieb mein Handeln nicht unbemerkt und es kam panisch ein Mann angerannt und hat mir geholfen. Es folgten dann Diskussionen à la „Mascha, das darfst du so nicht machen, das ist viel zu schwer für eine Frau.“, „Ja, aber in Deutschland habe ich das auch gemacht und ich hab da ´ne Technik, das ist nicht zu schwer für mich.“, „Nee, das geht nicht, du bist ´ne Frau, du musst noch gebären und das ist nicht gut für deinen Uterus (Gebärmutter).“ – Ich meine, es ist schon wirklich nett, dass sich jemand um meinen Uterus und um das Wohl meiner zukünftigen Kinder sorgt, aber diese Argumentationen waren doch irgendwie anstrengend. Inzwischen hat es sich bei uns ein wenig etabliert, dass Patienten nun regelmäßig gedreht und gewendet werden und auch die Oberärztin unserer Intensivstation achtet da sehr gewissenhaft drauf und ordnet das Umpositionieren von Patienten in der Frühvisite quasi „ärztlich“ an. Und so bin ich nun glücklich, dass ich nicht mehr diskutieren muss und mir in der Hinsicht freie Hand gelassen wird und meine Patienten, die auch mal was anderes sehen, als nur die Deckenleuchte, sind es auch. Und für alle, die sich weiterhin Sorgen um meinen Uterus machen: Meinem Uterus geht es gut; danke für die Anteilnahme; er hat während dieses Jahres keinen Schaden genommen und ist weiterhin bereitwillig geneigt, Kinder auf die Welt zu setzen.

So, das wars an dieser Stelle von mir, ich hoffe der Beitrag hat euch gefallen und ist nicht zu sehr ausgeartet. 😉 Ich habe länger an diesem Text gesessen als geplant, aber trotzdem wollte ich meine Erlebnisse und meine Erkenntnisse aus dem russischen Krankenhausleben mit euch teilen. Der vierte und abschließende Teil vom „Nähkästchen“ ist  bereits in Arbeit und wird noch vor Juli rauskommen.

Alles Liebe von mir, genießt das schöne Wetter, wir haben hier auch mal so langsam Sommer!

Eure Mascha 🙂

4 Antworten auf „Aus dem Nähkästchen geplaudert (Teil 3)

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  1. Ein echt sehr interessanter Text von dir. Es ist wahnsinnig spannend diese Einblicke in eine andere Krankenhauskultur zu bekommen. Ich hätte nicht gedacht, dass es noch so obsolete Arbeitsweisen gibt. Teilweise wirklich schockierend 😀 aber ich denke die meisten Patienten haben es auch in Deutschland früher so geschafft und schaffen es auch in Russland noch so.
    Ich freue mich schon auf den nächsten Text von dir!

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  2. Gefällt mir, dass Du auch dort stark Deine Frau stehst – so ein kultureller Austausch darf ja ruhig in beide Richtungen gehen. Bringt vielleicht den ein oder anderen „gedrillten“ Mann dort etwas zum nachdenken. 😉
    Schön differenzierter Einblick in Deine Arbeitswelt. Wenn ich das so lese, wird mir erst klar, wie gut ich es als Patient in Deutschland oder Norwegen habe.
    Dein Jahr in Russland scheint sich aber schon jetzt für Dich gelohnt zu haben – was für eine gute Erfahrung.

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